EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser,
am 25. Oktober haben sich ver.di und die Arbeitgeber nach schwierigen Verhandlungen und mehreren Wochen Warnstreiks für die Beschäftigten von Bund und Kommunen auf ein Tarifergebnis geeinigt. Eine Tarifrunde von hoher Bedeutung im Pandemiejahr 2020. Rund 2,3 Millionen Beschäftigte sind direkt betroffen, ebenso profitieren weitere hunderttausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer indirekt von den Verhandlungsergebnissen, weil der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes auch bei ihnen Anwendung findet, wie beispielsweise in einigen kommerziellen Krankenhäusern oder Einrichtungen der Behindertenhilfe. Auch kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien spiegeln die Ergebnisse des öffentlichen Dienstes regelmäßig wider, zum Beispiel für die knapp 700.000 Arbeitsverhältnisse in der Caritas.
Eines eint alle Beschäftigten der Daseinsvorsorge unabhängig von der Trägerschaft: Die Bedeutung der sogenannten systemrelevanten Tätigkeiten in unserer Gesellschaft kann niemand mehr leugnen. Die Bedeutung eines gemeinwohlorientierten Gesundheitswesens ist für die Pandemiebewältigung in den Vordergrund gerückt. Aber auch die Kindertagesbetreuung, die Jugendhilfe, die Altenpflege und viele andere Bereiche, auch außerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens, stehen plötzlich im Rampenlicht.
Innerhalb kürzester Zeit sind richtigerweise Milliardensummen zur Krisenbewältigung zur Verfügung gestellt worden. Über die Zielgenauigkeit und ihre Wirksamkeit lässt sich streiten. Klar ist aber mittlerweile auch, gestritten werden muss in unserem Gemeinwesen über die Bewältigung der Folgekosten. Und die dürfen nicht wie bisher den Millionen Menschen, die diesen »Laden am Laufen halten« aufgebürdet werden. ver.di fordert deshalb einen sozialen-ökologischen Umbau, der sich an gesellschaftlichen Bedarfen statt an Profitmaximierung orientiert, zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führt und zu dessen Finanzierung hohe Vermögen beitragen müssen.
Allerdings lassen einige Stimmen kirchlicher Arbeitgeber aufhorchen. Sie beziehen sich auf stark belastete öffentliche Kassen, halten die gewerkschaftlichen Forderungen für überzogen. In Veröffentlichungen der beiden großen christlichen Wohlfahrtsverbände, unter deren Dach immerhin rund 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt sind, fällt Zurückhaltung zu der Frage auf, wer die Kosten der gegenwärtigen Wirtschaftskrise tragen soll. Es stimmt nachdenklich, wenn Diakoniepräsident Ulrich Lilie in seinem Blog »Auf ein Wort« im Juni zwar das Konjunkturpaket der Bundesregierung als Beleg für die Gestaltungskraft unserer Demokratie hervorhebt, gleichzeitig aber »vergisst«, für die Einrichtungen seiner Diakonie auskömmliche Personalstandards und gute Bezahlung zu fordern. Diakonie und Caritas werden nahezu ausschließlich aus Sozialversicherungsbeiträgen und staatlichen Steuern finanziert. Ihre Arbeit, die zu etwa 80 Prozent von Frauen geleistet wird, trägt wesentlich dazu bei, dass die Infrastruktur des bundesdeutschen Sozial- und Gesundheitswesens gut funktioniert.
Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wurden gebraucht, sie wurden beklatscht, aber weiter geht es so bestimmt nicht. Das machten 12.500 Foto-Demonstrantinnen und -demonstranten Ende September bei der Gesundheitsministerkonferenz in Berlin deutlich. Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen verdienen Aufwertung und Entlastung. Warme Worte und Dienstgemeinschaftsgerede waren gestern. Kämpfe um höhere Löhne und gute Arbeit sind auch in Zeiten von Corona möglich und notwendig, wie nicht zuletzt die Tarifbewegung im öffentlichen Dienst beweist. Viele Beschäftigte in Diakonie, Caritas und verfasster Kirche begleiteten sie und zeigten sich mit vielfältigen Aktivitäten solidarisch. Das war ein wichtiges Signal. Denn ganz unabhängig von der Trägerschaft geben wir weiterhin gemeinsam für bessere Bezahlung, gute Arbeit, mehr Demokratie in den Betrieben, Respekt und Anerkennung keine Ruhe.
Eure Kirchen.info Redaktion
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